Bemerkungen zur Ausstellung von Barbara Steitz, "Du (Malerei auf zwei Ebenen)". Galerie Elitzer, Saarbrücken, 17.1.1992.

Die Komplexität der hier gezeigten Bilder erfordert, sich auf Wesentliches zu beschränken.

Drei Aspekte sollen uns bei dieser Einführung leiten: erstens "vom Ich zum Du", zweitens die historia naturalis des Malers, und drittens zu dem, was dem unvoreingenommenen Betrachter (vielleicht aber auch dem voreingenommenen) wohl als erstes auffallen mag: das Zerschnittensein der Leinwand; daran angebunden: die Zeit des Bildes.

Der Titel der Ausstellung,: "Du", darf durchaus programmatisch verstanden werden. Großformatige Köpfe sind in verschiedenen Posen einander zugewandt, aber auch von einander abgewandt, sind scheinbar verschlossen im Ich.

Das Ich ist die Voraussetzung zum Du. Das Ich und die ihm zugrundeliegende Individualität offenbart sich am augenfälligsten im Gesicht des Menschen.

Aber hier sehen wir nicht jene, nur scheinbar vorhandene, Individualität, wie sie uns auf Photographien dargeboten wird. Heimito von Doderer hat diesen Sachverhalt treffend und mit dem doderer-typischen leichten Sarkasmus geschildert: "Alte Photographien: so formlos, lächerlich oder geradezu grundhäßlich erscheinen sie niemals, wenn sie neu sind; sonst bewahrte man sie nicht auf, ja, es würde überhaupt niemand erlauben, daß man ihn photographiere. Der rohe, mißverständliche Naturalismus des Apparates reißt ein winziges Stück aus dem weitschweifigen Ornament einer Lebenslinie, dessen noch offene Seite die Zukunft meinte; von ihr will das Objektiv nichts wissen; sein Schnappschuss ist dem Biographischen und dem Portrait fremd: er sistiert das Leben. Jemand photographieren heißt beinahe ihn auf sublime Weise totschießen; und ob das 'künstlerisch' oder nur für ein Paßbild geschieht, ist gehupft Hie gesprungen." (Heimito von Doderer, Die Dämonen, S. 715.)

wenn nicht der "rohe, mißverständliche Naturalismus" gemeint ist, dann kann in einem nächsten, folgerichtigen Schritt auch auf die Möglichkeit des Wiedererkennens - wie sie noch in dem früheren, hier nicht ausgestellten Bild mit dem Picasso-Kopf angelegt ist - verzichtet werden.

So finden wir denn eine Konzentration etwa auf Augen und Mund, die soweit gehen kann, daß der Eindruck eines "reinen" Lächelns evoziert wird; bis hin zu einer Reduktion, die mit Farbflächen arbeitet, die keinerlei Binnenstruktur aufweisen. Auch die Erfahrung des Formates, die Erfahrung der "Übergröße" der Köpfe gehört hierher: Elemente von wabernder Intensität und trotzdem subtiler Durchzeichnung neben Flächen, die erst in dieser Größe ihren quasi gewalthaften Charakter erhalten: nicht "das Tolle neben dem Schönen", wie es in einer Kennzeichnung J.P.Fr.Richters durch Ralf Vollmann heißt, sondern: "das Elementare neben dem Unsagbaren".

Aber: scheinen wir uns nicht in einen Widerspruch zu verwickeln? Soll Individualität entstehen durch äußerste Reduzierung aller individuellen Züge? Hier kommt ein Weiteres, für die Werke Wichtiges hinzu. Bislang haben wir uns mit den Köpfen selbst beschäftigt. Wesentliches geschieht aber auch um die einzelnen Köpfe herum. Eine Art von Aura, die oft die verschiedenen Farbwerte dieser Köpfe aufnimmt und mit ihnen "arbeitet", oft aber auch sich betonter Andersfarbigkeit bedient. Gleiches geschieht mit dem Kontour. Einerseits die scharfe Abgrenzung, andererseits das Verschwimmen, so, als flösse der Kontour gleichsam nach außen. Trotz dieser gegensätzlichen Mittel und ihres unterschiedlichen Einsatzes wirken die Bilder jeweils einheitlich.

Das vereinheitlichende Prinzip, im malerischen wie im geistigen Sinne, ist die Verbindung und das Verbindende: im Auratischen, in der Resonanz, im Fluß der Energien zwischen den Menschen ist der Weg vom "Ich" zum "Du" eröffnet; gleichzeitig aber auch der Weg vom einzelnen Ereignis zu Ereignismustern, die freilich nicht einem starren Schema gehorchen, sondern sozusagen stetig im Fluß sind.

Nicht von ungefähr zitiert Barbara Steitz den amerikanischen Biochemiker Rupert Sheldrake, der im Jahre 1981 weltweites Aufsehen mit seiner Theorie der morphogenetischen Felder erregte. So körinen beispielsweise im Universum durch die Wiederholung von Ereignissen neue Muster entstehen, die zu neuen Ordnungen führen; das Universum ist nicht von vorneherein durch ein bestimmtes, nicht erweiterbares Reservoir von ~lustern bestimmt. An dieser Stelle ist es leider nicht möglich, auf tiefere Verbindungen der vorgestellten Werke auf diese interessanten Theorien einzugehen. Auch soll hier nicht der Eindruck entstehen, die Bilder seien gemalte Naturwlssenschaft, oder der Versuch, Theorien in Kunst umzusetzen: diese Bilder sind autark.

Vielmehr: was hier künstlerischen Ausdruck findet, ist trotz der Selbständigkeit und des Selbstbezuges des Kunstwerkes durchaus nicht völlig abgetrennt von dem, was die heutige Wissenschaft bewegt. Wenn dieser Bezug auch nur "unterirdisch", oder ohne ausdrücklichen VerHeis verläuft, so ist er doch vorhanden, und nicht nur in einer Richtung. David Bohm hat etwa empfohlen, die Wissenschaft solle sich in Zukunft mehr der Kunst annähern. Schließlich: über das Verhältnis der hier gezeigten Werke zur Zeit und über das Zerschneiden der Leinwand:

Unter Zeit wollen wir nicht vorrangig die objektive, gleichförmig fließende, Zeit der Newtonschen Physik verstehen, wie wir sie etwa aus allegorischen Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts kennen. Gemeint ist hier die persönliche, die gelebte, erlittene und erfahrene Zeit des Künstlers,: was letztlich meint: die Zeit des Kunstwerkes. Sie wird hier vorgeführt und nachvollziehbar gemacht anhand des Prozesses von Bemalen und Zerschneiden.

Wir Wissen, daß Barbara Steitz ihre Bilder "zu Ende malt" ­ also nach landläufiger ~leinung "fertige" Werke vor sich hat ­ ehe als Heiterer Schritt der Prozeß des Schneidens und übermalens einsetzt.

Das Aufgeschnittensein der Bilder: dieses ist nicht als Destruktion zu verstehen; in diesem Falle wäre die zweite, hintere Ebene nicht viel mehr als eine rückwärtige Folie, zu deren Aufgabe es unter anderem zählte, die dahinterliegende Wand abzudecken, und die sich somit zufälligerweise auch angeboten hätte, als weiterer Farbträger in Erscheinung zu treten.

Vielmehr handelt es sich nicht um ein Zerstückeln, sondern um das Freilegen von Schichten. Ebenso wie auf dem ersten Malgrund, also auf der ursprünglichen Bildfläche, sich auraartige Farbpartien um die Köpfe herumlegen, sich an sie anschmiegen, um so die Isolierung zu durchbrechen, um durch resonanzhafte Snhwingung mit dem Gegenüber und der Lebenswelt zu kommunizieren und somit eine vielfältige Bezüglichkeit anzuzeigen: ebenso wird dem ersten Malgrund eine weitere Schicht beigegeben. Es ist, als träte die Zeit des Bildes selbst zu Tage: scheinbar Fertiges wird vollendet.

Diesen Vorgang hat Jackson Pollock treffend beschrieben: "Ich fürchte nicht, Änderungen vorzunehmen oder die Vorstellung des Bildes zu zerstören ( ... ), da das Bild sein eigenes Leben hat. Das versuche ich hervorkommen zu lassen. Nur wenn ich den Kontakt zu dem Bild verliere, wird das Ergebnis verworren. Sonst besteht reine Harmonie, ein müheloses Geben und Nehmen ( ... )" (Bryan Robertson, Jackson Pollok, Köln o.J.).

Wir sehen: hier ist nicht das Ende unserer Überlegungen anzusetzen, hier wäre ein Anfang zu machen. Ein Anfang, der nicht nur das jeweilige Gegenüber innerhalb der Bilder meint, sondern der hinausgreift auf das jeweilige Gegenüber des Betrachters. Das sind Sie. Nennen Sie es Resonanz, Energie, Aura, morphogenetisches Feld oder einfach nur bemalte, zerschnittene und wieder bemalte Leinwand: Sie und Ihr Schauen sind aufgefordert, in den Kreislauf von Geben und Nehmen einzutreten.

Jürgen Sproß, 1992